Roberto Calasso (1941-2021) war als genialer Schriftsteller, Literaturkritiker und Verleger ein wahrhaft europäischer Autor. In seiner Arbeit als Leiter des Verlags Adelphi, wo er für die Publikation vieler anspruchsvoller Überlegungen und Vorstellungswelten sorgte, aber auch durch die Titel, die sein umfangreiches und in achtundzwanzig Sprachen übersetztes „namenloses Werk“ bilden, verkörperte er über sechzig Jahre lang die Erneuerung des europäischen Humanismus. Mit der Verleihung der Sonderausgabe des Prix Grand Continent 2021 an die Persönlichkeit Roberto Calasso möchten wir uns in die lange Geschichte des Humanismus einreihen und gleichzeitig die Richtung für die Zukunft vorgeben.
Adelphi wurde 1963 in Mailand gegründet und ist einzigartig in der italienischen Verlagslandschaft: ein Kultobjekt für eine große Gruppe von Lesern, die sich im Laufe der Zeit mit seiner erlesenen Auswahl aus Literatur aller Zeiten und Orte, Wissenschaft, Kunst sowie Philosophie identifiziert haben. Dieser außergewöhnliche Charakter fand auch international breite Anerkennung. Adelphi wird beinahe ausnahmslos mit einem seiner Gründer identifiziert, Roberto Calasso, der ab 1971 verlegerischer Leiter, ab 1990 Generaldirektor und von 1999 bis zu seinem Tod im Jahr 2021 Präsident des Verlags war. Hinter dem Erfolg von Adelphi und seiner unmittelbaren Anerkennung in einem zunehmend unter Druck geratenen Verlagsmarkt steht die Hingabe, mit der Calasso fast sechzig Jahre lang jede einzelne Veröffentlichung auswählte und herausgab.
„Wir werden nur Bücher herausbringen, die wir wirklich mögen“, hatte ihm sein Mentor, der Verleger Roberto Bazlen alias Bobi bei der Präsentation des Projekts 1962 mit auf den Weg gegeben. Das Herzstück des ursprünglichen Projekts bestand aus der ersten jemals in Europa realisierten kritischen Werkedition von Friedrich Nietzsche. In der von Beginn an sehr großen Vielfalt des Verlagskatalogs zeigte sich das Bestreben, bedeutende und bislang unveröffentlichte Bücher aus allen Genres und Epochen zu publizieren, egal, ob es sich dabei um einen wissenschaftlichen Text oder einen tibetischen Klassiker handelte. Bazlen sprach gewöhnlich von „einzigartigen Büchern“, also Texten, denen man anmerkt, dass etwas in ihnen vorgeht. In diesem von einem transkulturellen Anliegen geprägten Projekt ist die überwiegende Mehrheit der Veröffentlichungen das Ergebnis hochwertiger Übersetzungen. Es handelt sich, so Calasso, um Werke, „die nicht als Hommage an irgendeine kulturelle Pflicht ausgewählt wurden, nicht weil sie eine Art Unesco des Geistes darstellen, was genau das Gegenteil von dem wäre, was wir stets vorgelegt haben, sondern weil sie eine Möglichkeit der Erkenntnis in sich tragen, ohne die unser Leben einfach beschränkter wäre“.
Der Beitrag Calassos zur europäischen Kultur hat sich keinesfalls auf seine Arbeit bei Adelphi beschränkt. Seine ständige Aufmerksamkeit für die magmaartige Aktivität des Verlagsmarktes zeigte sich auch in den Rezensionen, die er über dreißig Jahre lang in unregelmäßigen Abständen in überregionalen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichte. Das Spektrum der aufgegriffenen Themen ist sehr breit und es mangelt nicht an Überraschungen. Selbst in diesem großen Konvolut von Rezensionen sind italienische Titel in der Minderheit: Calasso, der fünf Sprachen fließend sprach, widmete sich vor allem fremdsprachigen Büchern und nahm manchmal direkt auf die Originalausgabe Bezug.
Doch Roberto Calasso ist vor allen Dingen Autor einer Reihe von Bänden, die er selbst als einzigartiges, namenloses Werk bezeichnete: Diese eigentümliche Zusammenstellung begann 1983 mit Der Untergang von Kasch (dt. 1997) und besteht aus insgesamt elf Bänden; auf den ersten Teil folgten Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia (1988, dt. 1993), Ka (1996, dt. 1999), K. (2002, dt. 2006), Das Rosa Tiepolos (2006, dt. 2010), Der Traum Baudelaires (2008, dt. 2012), Die Glut (2010, dt. 2015), Der himmlische Jäger (2016, dt. 2020), Das unnennbare Heute (2017, dt. 2019), Il libro di tutti i libri (2019) und schließlich La Tavoletta dei Destini (2020). Die Verleihung der Sonderausgabe 2021 des Prix Grand Continent für dieses bis heute in 28 Sprachen übersetzte und in 29 verschiedenen Ländern verbreitete Werk bietet Gelegenheit, einige seiner wiederkehrenden Elemente sowie einige entscheidende Punkte zu betonen.
Dieses meisterhafte Werk kann als der große Versuch verstanden werden, den Ursprung der Moderne und der aktuellen Epoche nachzuvollziehen, die symbolisch als „die unaussprechliche Gegenwart“ definiert wird. Die elf Bände tragen dazu bei, in einem Handlungsrahmen ständiger Metamorphose mit ungewissen Konturen einen ausgewählten Raum für die Literatur abzugrenzen. Calasso bezeichnete sein Ideal mit dem Begriff „absolute Literatur“ und kombinierte damit das von der Literatur seit dem 19. Jahrhundert beanspruchte Profil mit dem Privileg dieser Kunstform, sich als autarkes Wissen zu inszenieren. Die Literatur ist „absolut“, da sie etymologisch den Anspruch vertritt, „frei, ungebunden“ gegenüber jedweder Verpflichtung zu Moral und gesellschaftlicher Relevanz zu sein, und gleichzeitig, weil sie sich mit einer Suche nach Absolutheit gleichsetzt. Sie scheint einige rituelle Merkmale zu übernehmen, insbesondere das Opferritual, das einst als wirksamstes Mittel zur Kommunikation mit Gottheiten galt. In der heutigen Welt, die das Göttliche beiseitegelegt hat, ist die Würdigung der Sphäre des Unsichtbaren für Calasso zu einem Vorrecht der Literatur geworden.
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